Radiokunst à la Leo Greller



Leo Greller über die Hamburger B-Movie-Persiflage 'Hanseatic Necrophile'



'Hanseatic Necrophile'. Wir haben den im Herbst 1998 gedreht. Ich hab die männliche Hauptrolle gespielt. Naja, „männlich“ ist vielleicht übertrieben. Theo, der Teekoster – so hieß ich im Film. Ein Typ, der tagtäglich die gleichen Teeproben schlürft und sein eintöniges Leben am Hafen genießt, bis alles den Bach runtergeht. Aber fangen wir vorne an.

Die erste Szene spielt in der Hamburger Speicherstadt, diesem majestätischen Relikt aus der Kaiserzeit. Alte Backsteinbauten, die sich wie Reihen soldatischer Ziegelklötze in den Himmel strecken. Zwischen all den Teppichhändlern und Importfirmen befindet sich das kleine Büro einer Teeimport-Firma, in der ich als Teekoster arbeite. Mein Reich: ein kleiner, staubiger Raum voller Tassen und dampfender Kannen. Kein anderer Mensch weit und breit. Nur ich, der Tee und die unaufhaltsame Routine.

Da beginnt der Film. Kamera schwenkt durch die Speicherstadt, klassische Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Händel, glaub ich. Dann sieht man mich. Allein. Vor mir eine lange Reihe dampfender Tassen, und ich widme mich jeder mit einer geradezu stoischen Ruhe. Der Zuschauer muss meine Entfremdung spüren – die Monotonie. Tassen abwaschen, Tee trinken, Tassen abwaschen, Tee trinken. So vergeht die Zeit. Die Wanduhr tickt. Halb vier. Feierabend. Alles wiederholt sich, als wäre das Leben selbst nichts weiter als ein endloser Schluck aus derselben Tasse. Und am dritten Tag – da ändert sich alles. Ich stehe, wie immer, am Spültisch, das Radio spielt ein harmloses Klaviersonett, während ich die Tassen abwasche. Dann plötzlich – eine Unterbrechung. Ein lautes Knacken. Das Musikprogramm bricht ab. Ich komme aus dem Tritt, fast lasse ich eine Tasse fallen. Eine seriöse Frauenstimme spricht. „Achtung! Eine Notmeldung der Katastrophenschutzbehörde: Ein Flugzeug ist auf das Kernkraftwerk Stade gestürzt. Ein Super-GAU ist nicht ausgeschlossen.“

Der Tee, den ich gerade im Mund habe, spritzt quer über den Tisch, und die Tasse zerschellt auf den Fliesen. Mein Kopf rattert. Flugzeug? Kernkraftwerk? Ich stütze mich auf der Spüle ab und versuche, meinen Atem zu kontrollieren. Doch in meinem Hinterkopf mischen sich seltsame, vielleicht sogar schadenfrohe Gedanken. „Endlich ist mal so ein Drecksvogel vom Himmel gefallen.“ Aber der Schock überwiegt. Hamburg – meine Stadt – bedroht von radioaktiver Verseuchung. Und dann fällt es mir ein: Elke! Elke, meine Freundin. Ein junges, intelligentes Ding, das sich eher mit mir abgibt, als ich je verdient hätte. Sie bessert ihr Studium als Erntehelferin im Alten Land auf, und jetzt… jetzt ist sie in Gefahr. Das Alte Land liegt direkt neben Stade. Was, wenn die Strahlung schon dort angekommen ist? Sie fährt immer mit dem Fahrrad. Keine Zeit zu verlieren.

Ich packe hastig meine Sachen, werfe meinen Teelöffel in die Ecke und stürze zum Telefon. Ich muss mir noch die Erlaubnis von meinem Chef holen. Die Regeln waren bei uns immer streng. Aber vielleicht versteht er, dass eine Ausnahmesituation wie diese... das ist nun mal was anderes. Ich wähle die Nummer des Büros, und nach ein paar endlosen Klingeltönen hebt endlich die Sekretärin ab. „Büro Kranenberg, wie kann ich helfen?“ Ihre Stimme klingt… merkwürdig. So müde. So leer.

„Theo hier. Ich... ähm... ich muss dringend los. Super-GAU, Sie wissen schon. Meine Freundin, sie ist...“ Ich stocke. Sie unterbricht mich sanft. „Der Chef... Herr Kranenberg... ist nicht mehr da. Er hat sich erschossen.“ Ich starre ins Leere. „Was? Er... er hat was?“ „Ja“, antwortet sie emotionslos. „Als er von dem Unfall gehört hat. Er hatte immer schon Angst vor einem GAU. Eine Pistole in der Schreibtischschublade... naja, jetzt liegt er hier.“ Mir wird kalt. Das ist zu viel. Ich stammele: „Und... und Sie? Was machen Sie jetzt?“ Sie seufzt. „Ich überlege, ob ich es genauso mache.“ Ich verschlucke mich fast am eigenen Atem. „Äh... ich... also... ich muss dann los. Tschüss.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, knalle ich den Hörer auf. Keine Sekunde länger will ich an diesem Gespräch festhalten.

Mein Herz rast, und mein Kopf dreht sich. Alles fühlt sich plötzlich surreal an. Ein Flugzeug stürzt auf ein Atomkraftwerk, mein Chef erschießt sich, und seine Sekretärin will ihm folgen. Und ich stehe hier mit der Verantwortung, jemanden zu retten, den ich liebe – so gut es mir eben möglich ist. Ich weiß nicht, wie, aber ich muss es nach Buxtehude schaffen. Elke, mein ungepflückter Apfel, braucht mich.


Im Teekostbüro

Als der Reporter plötzlich hektischer wurde, hob ich den Kopf. Seine Stimme überschlug sich fast, als er erklärte, dass eine radioaktive Wolke über Hamburg gezogen sei. Schlimmer noch: Es gab Berichte von seltsamen Vorfällen im Stadtzentrum. Menschen seien mutiert, aggressiv geworden, und hätten begonnen, andere anzugreifen. „Hamburg wird evakuiert“, sagte die Nachrichtensprecherin mit erschütternd ruhiger Stimme. „Wer noch in der Innenstadt ist, sollte sofort Schutz suchen.“
Ich starrte ungläubig auf das Radio. Mutationen? Aggressive Menschen? Was für ein Unsinn! Und doch... da war dieses dumpfe Dröhnen von draußen, das durch die Mauern der Speicherstadt hereinsickerte, wie ein fernes Gewitter. Mein Magen drehte sich um. Ich griff nach meinem Mantel. Elke war irgendwo da draußen. Aber was war mit mir? Theo, der Teekoster, der nüchterne, etwas weltfremde Typ, der sich normalerweise über nichts aufregt – sollte jetzt plötzlich zum Helden werden?
„Elke...“, murmelte ich und schüttelte den Kopf, als ich mir mein Zeug schnappte. Die Gedanken in meinem Kopf rasten, während ich in den Flur trat. Die Speicherstadt war still, aber in der Ferne, Richtung Jungfernstieg, stieg Rauch auf. Das dumpfe Dröhnen wurde lauter, und plötzlich hörte ich auch Schreie. Sie hallten unwirklich zwischen den alten Lagerhäusern wider. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. „Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte ich und setzte mich in Bewegung, Richtung Innenstadt.

Am Jungfernstieg angekommen, bot sich mir ein Bild des Grauens. Überall rannten Menschen panisch umher. Autos standen verlassen auf der Straße, manche brannten. Und dann sah ich sie: die Zombies. Verstrahlt, bleich, ihre Haut teils verbrannt, teils verrottet. Ihre Augen glühten giftig grün. Sie bewegten sich träge, aber unaufhaltsam, stöhnten wie wilde Tiere und stürzten sich auf alles, was noch lebte.
Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. Einer dieser entstellten Zombies griff sich gerade ein älteres Paar, das verzweifelt versuchte, in ein Geschäft zu fliehen. Der Zombie packte den Mann, riss ihn zu Boden, und... ich drehte mich weg. Die Schreie schnitten mir durch Mark und Bein, doch ich stand wie erstarrt. Mein Körper weigerte sich, mich zu bewegen.

Plötzlich hörte ich einen schrillen Pfiff. Ich drehte mich um und sah eine junge Frau auf einem BMX-Rad mit irrsinniger Geschwindigkeit auf uns zurasen. Ihr kurzes Haar flog im Wind, und ihre Arme und Beine bewegten sich in einem Tempo, das mich fast schwindelig machte. Sie sprang vom Fahrrad, rollte sich elegant ab und landete direkt vor dem Zombie, der gerade über dem Mann hockte. Mit einem schnellen, präzisen Tritt brach sie dem Ding den kleinen Finger, worauf sich sein ohnehin bereits nerviges Wimmern noch verstärkte und er fortan eifrig mit sich selber beschäftigt war. „Los! Rein ins Kaufhaus, bevor noch mehr kommen!“ rief sie dem Paar zu, das zitternd ihrem Befehl folgte.
Ich stand da, immer noch wie versteinert. Wer zur Hölle war diese Frau? Sie war wie aus einem Actionfilm geschnitten, und doch war sie hier, echt, mitten in dieser verdammten Zombie-Apokalypse. Entschlossen und kalt, als hätte sie schon unzählige solcher Situationen erlebt. Sie drehte sich zu mir um und rief: „Hey, Teemann! Entweder du kommst mit oder du endest als Zombie-Futter!“

„Teemann?“ Ich fühlte mich wie in einem Fiebertraum, aber etwas in mir erwachte. Ehe ich es richtig begriff, drehte ich mich um und rannte hinter ihr her. Wir sprinteten durch die Straßen, während immer mehr dieser verstrahlten Kreaturen auftauchten. „Was... was sind das für Dinger?“ keuchte ich. „Atom-Zombies“, antwortete sie knapp, ohne langsamer zu werden. „Mutiert durch die Strahlung aus Stade. Sie sind langsam, aber du musst ihnen den kleinen Finger brechen, sonst bleiben sie am Leben.“
„Woher... woher weißt du das?“ schnaufte ich, unfähig, das alles zu verarbeiten. „Lesen hilft“, entgegnete sie trocken. „Und Boxtraining.“
Sie führte mich in eine verwinkelte Seitenstraße, weg vom Chaos am Jungfernstieg. Ich stolperte fast, als sie plötzlich an einem Hintereingang eines verlassenen Geschäfts anhielt. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie die Tür und zog mich hinein. Es war dunkel, und die Luft roch nach Staub und Schimmel. „Hier sind wir erstmal sicher“, sagte sie, während sie die Tür hinter uns verriegelte.

Ich lehnte mich keuchend gegen die Wand. Mein Herz raste, mein Kopf drehte sich. War das real? War ich gerade wirklich vor Zombies geflohen, zusammen mit einer BMX-fahrenden, boxenden Heldin? „Wer... wer bist du eigentlich?“ brachte ich schließlich hervor. „Sam“, antwortete die attraktive Lesbe knapp. „Und du bist?“ „Theo“, stammelte ich. „Ich bin Teekoster. Ich... koste Tee.“
Sam zog eine Augenbraue hoch und lachte leise. „Das erklärt einiges.“ Sie ging zum Fenster und spähte vorsichtig hinaus. „Und, Theo der Teemann – hast du jemanden, den du retten willst? Oder bist du nur hier, weil du zu viel Tee getrunken hast?“ Ich schluckte und nickte langsam. „Meine Freundin... Elke. Sie ist im Alten Land. Ich muss sie finden.“

Sam drehte sich zu mir um, ihre Augen schienen für einen Moment weicher zu werden. „Das wird nicht leicht“, sagte sie. „Aber ich mag Herausforderungen.“ Sie grinste plötzlich. „Und Teetrinker sind mir auch sympathisch.“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Na gut... dann los.“
Sam schüttelte lachend den Kopf. „Na dann, Teemann. Hamburg braucht uns.“


Am Jungfernstieg

Sam und ich standen am S-Bahnhof Altona. Die Luft war stickig, die Sonne versteckte sich hinter einem bedrohlich grauen Himmel, und über allem hing dieser penetrante Geruch von verbranntem Gummi und Schweiß. Seit Stunden hatten wir uns durch die leeren Straßen geschlagen, immer auf der Hut vor den Zombies und denjenigen, die den Kollaps der Ordnung für ihre eigenen Zwecke nutzten. Die verstrahlten Kreaturen waren nicht das einzige Problem. Plünderer und Psychopathen hatten sich überall breitgemacht, wie Aasgeier auf den Trümmern unserer Gesellschaft.

„Die S-Bahn fährt noch?“ fragte ich skeptisch, als Sam zielstrebig auf den leeren Bahnsteig zusteuerte. „Manchmal. Wenn wir Glück haben“, antwortete sie knapp und prüfte die Umgebung. „Die meisten Leute haben es nicht mehr bis hierher geschafft. Zu viel Chaos in der Innenstadt. Aber wir müssen schnell ins Alte Land, wenn du deine Freundin noch retten willst.“
Wir hörten in der Ferne Schreie. Sam blickte in die Richtung und zuckte zusammen. „Los, wir müssen weiter. Die Plünderer sind nicht weit.“ Keine Sekunde zu spät hörte ich das Surren der einfahrenden S-Bahn. Sie sah schmutzig aus, und der vordere Waggon war zertrümmert, als hätte jemand versucht, das Ding mit einem Bulldozer zu überfahren. Aber sie fuhr – und das war alles, was zählte.

Wir sprangen hinein. Der Zug war fast leer, abgesehen von ein paar verdreckten Gestalten, die apathisch in den Ecken kauerten. Ein paar Augenpaare musterten uns misstrauisch. „Nicht auffallen“, flüsterte Sam mir zu, während wir uns auf eine der kaputten Sitze fallen ließen. Das war leichter gesagt als getan. Mir war noch nie in meinem Leben so unwohl gewesen.
Die Türen schlossen sich und mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Draußen zogen die verstrahlten, verfallenen Überreste von Hamburg an uns vorbei. Es war, als hätten wir eine Reise in eine post-apokalyptische Parallelwelt angetreten. „Was ist dein Plan, wenn wir im Alten Land ankommen?“ fragte Sam, während sie ein paar Plünderer beobachtete, die am Bahnsteig rannten und versuchten, die S-Bahn zu erreichen. „Elke finden. Und dann... ich weiß nicht. Raus hier, weg von Hamburg“, murmelte ich. Es klang schwach, selbst in meinen Ohren. Sam schnaubte. „Klingt nicht gerade wie ein Plan.“

Plötzlich riss ein lautes Krachen die Stille der Bahn. Ein Fenster ging zu Bruch, und ein Mann mit irrem Blick sprang herein, eine improvisierte Machete in der Hand. „Alles raus hier, das ist mein Waggon!“ brüllte er, seine Augen funkelten wahnsinnig. Sam stand auf, als wäre das das Natürlichste auf der Welt. „Beruhig dich“, sagte sie mit einem Tonfall, der kühl und kontrolliert war. „Du willst hier keinen Ärger.“ Der Mann lachte hysterisch. „Ich bin der Ärger, Baby!“
Doch bevor er reagieren konnte, bewegte sich Sam mit der Schnelligkeit einer Kobra. Sie griff sein Handgelenk, drehte es mit einem sauberen Griff, der die Machete klappernd zu Boden fallen ließ. Dann zog sie ihn zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ich nicht verstand. Sein Gesicht verlor augenblicklich die Farbe, und er stürzte sich rückwärts aus dem Fenster.

„Was hast du ihm gesagt?“ fragte ich, immer noch etwas ungläubig über die Szene. „Etwas, das ihn mehr erschreckt hat als Zombies“, antwortete sie mit einem süffisanten Lächeln und setzte sich wieder hin. „Mach dir keine Sorgen. Die meisten von denen sind nur heiße Luft.“
Die S-Bahn rumpelte weiter durch das verstrahlte Hamburg, bis wir endlich die Brücke über die Elbe erreichten. Die Lichter der Stadt verblassten hinter uns, und vor uns erstreckte sich die Weite des Alten Landes. Normalerweise eine friedliche Oase aus Apfelbäumen und weitläufigen Feldern, doch jetzt lag etwas Dunkles über der Gegend.
Als wir in Buxtehude ankamen, war das Erste, was uns auffiel, die totale Stille. Keine Menschen, keine Autos, nur das Rauschen des Windes und das ferne Dröhnen der S-Bahn, die sich langsam entfernte.

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei“, sagte Sam, als wir die Hauptstraße entlanggingen. „Die Stille ist nie ein gutes Zeichen.“
Plötzlich sahen wir, was die Ruhe erklärt hatte. Eine riesige Barrikade aus rostigen Metallteilen und brennenden Autoreifen blockierte den Weg weiter in die Apfelplantagen. Auf der anderen Seite standen Bewaffnete – nicht die chaotischen Plünderer aus der Stadt, sondern gut organisierte Milizen. Und über allem hing ein gigantisches Banner: „Darkwave für immer – Freiheit den Goths!“
„Was zur Hölle...?“ murmelte ich. Sam spuckte verächtlich aus. „Willkommen in deiner neuen Diktatur.“ In der Ferne hörten wir eine donnernde Stimme aus Lautsprechern: „Willkommen in der neuen Ära! Hier regieren keine Politiker mehr, sondern die wahren Seelen Hamburgs – die Unterdrückten, die Dunklen, die, die immer im Schatten lebten. Unsere Zeit ist gekommen!“

Und dann sahen wir ihn. Der Bürgermeister von Buxtehude. In einem langen, schwarzen Umhang, mit weiß geschminktem Gesicht und kohlrabenschwarzem Lippenstift. Sein Name war Ulf, ein größenwahnsinniger Möchtegern-Diktator, der die Atomkatastrophe dazu nutzte, seine bizarre Vision einer Gothic-Herrschaft durchzusetzen.
„Dieser Kerl ist irre“, flüsterte Sam. „Wir müssen durch, bevor sie uns als Feinde sehen.“ Doch Ulf hatte uns bereits entdeckt. „Neue Besucher!“ rief er durch die Lautsprecher. „Tretet ein in mein Reich. Oder wollt ihr euch etwa den Untoten anschließen?“

Sam zog mich zur Seite. „Wir müssen hier raus. Schnell.“ Doch bevor wir fliehen konnten, waren wir umzingelt. Ulf trat auf uns zu, seine Augen funkelten vor Machtlust. „Ihr seid zu spät“, sagte er kalt. „Das Alte Land gehört jetzt uns.“


Im Alten Land

Sam und ich standen mitten im Epizentrum dieser bizarren Gothic-Diktatur, umzingelt von schwarz gekleideten Gestalten, die uns aus kohleschwarzen Augenhöhlen anstarrten. Der größenwahnsinnige Bürgermeister Ulf grinste selbstgefällig, als er uns näherkam. Sein Umhang flatterte dramatisch im Wind, und der schwere Geruch von verbrannten Kerzen und Patchouli lag in der Luft. Ich konnte förmlich spüren, wie er sich in seiner neuen Rolle als Herrscher des Alten Landes suhlte.
„Ihr werdet schon noch verstehen“, sagte Ulf, während er triumphierend seine Arme ausbreitete. „Das Alte Land gehört jetzt den Dunklen Seelen. Wir, die lange unterdrückt wurden, erheben uns und herrschen!“ Sam verdrehte die Augen. „Gothic-Diktatur? Ehrlich? Das ist so lächerlich, dass es fast schon wieder weh tut.“ „Pssst“, zischte ich. „Nicht provozieren. Ich will hier raus, nicht Teil einer finsteren Performance-Art-Aufführung werden.“

Während Ulf weiter seinen Monolog über die bevorstehende „Ära der Finsternis“ hielt, bemerkte ich einen kleinen tragbaren Lautsprecher, den einer der Goths bei sich trug. Mir kam eine Idee. Es war ein wenig riskant und vielleicht nicht das schlauste, aber in dieser surrealen Situation schien es die einzige Chance zu sein, Zeit zu gewinnen. Und was sollte schon schiefgehen? Die Typen waren ohnehin völlig abgedreht.
„Sam“, flüsterte ich und deutete auf den Lautsprecher. „Ich habe eine Idee. Aber es ist ein bisschen verrückt.“ „Alles hier ist verrückt“, flüsterte sie zurück. „Leg los.“
Während Ulf weiter inbrünstig von „Revolution“ und „ewiger Dunkelheit“ sprach, schlich ich mich an den nächsten Gothic-Getreuen heran und zog ihm den Lautsprecher unauffällig aus der Tasche. Glücklicherweise bemerkte niemand etwas – sie waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, Ulfs selbstverliebte Rede zu genießen. Ich schaltete den Lautsprecher an und durchwühlte das Musikverzeichnis, das offenbar eine beachtliche Sammlung düsterer Tracks enthielt.

Da! „Nine Inch Nails – The Downward Spiral“. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Trent Reznor – der peinliche Skinny-Puppy-Klon und seine Band. Diese Musik hatte mich immer in den Wahnsinn getrieben, und ich war mir sicher, dass es die Goths hier auch nicht gerade erfreuen würde. Es war einfach zu... zu gewollt, zu überladen, und genau deshalb perfekt für diesen Moment.
„Was machst du da?“ fragte Sam, während sie versuchte, den herannahenden Ulf weiter abzulenken. „Warte ab“, sagte ich und drückte Play.
Kaum ertönten die ersten schmerzhaft überproduzierten Synthie-Klänge von „Closer“, als es passierte: Die Goths zuckten zusammen. Ulf hielt in seiner Rede inne, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. „Was ist das?“ brüllte er, seine Augen weit vor Schock. Die düsteren Gesichter um uns herum verzerrten sich vor Verwirrung und Unbehagen.
„Das… das ist nicht wahr“, murmelte einer der Untergebenen. „Das ist… das ist nicht unsere Musik!“

„Halt es aus!“ rief Ulf, aber seine eigene Stimme zitterte. „Das ist nur ein Test unserer Hingabe an die Dunkelheit!“
Doch es war zu spät. Der repetitiv-monotone Beat und Reznors gequältes Wimmern waren zu viel für ihre dunkle Ästhetik. Einer nach dem anderen fielen sie auf die Knie, die Hände über den Ohren. Ulf selbst taumelte rückwärts, sein verzerrtes Gesicht war eine Mischung aus Schmerz und Panik. „Macht das aus!“ schrie er. „Das ist Ketzerei! Verrat an der wahren Gothic-Seele!“ „Jetzt!“ rief Sam und wir rannten los.

Wir eilten in Richtung der Apfelplantagen, wo das Kühl-Silo stand, von dem wir gehört hatten, dass es als Gefängnis für jene genutzt wurde, die sich Ulfs Herrschaft widersetzten. Die Zombies mochten draußen lauern, aber hier drinnen hatte Ulf offenbar sein eigenes Regime des Schreckens errichtet.
„Dort! Das Silo!“ Sam deutete auf das riesige, metallische Gebäude in der Ferne, das wie ein einsamer Turm inmitten der Plantagen stand. „Meinst du, sie ist da drin?“ fragte ich, das Adrenalin pumpte durch meinen Körper. „Wenn sie Glück hatte, ja. Das Silo ist das einzige, was dick genug ist, um die Strahlung draußen zu halten.“
Als wir das Silo erreichten, fanden wir den Eingang verriegelt. Natürlich. Aber Sam zögerte nicht lange. Sie zog ein kleines Messer aus ihrem Stiefel und machte sich geschickt an dem Schloss zu schaffen. „Boxen ist nicht mein einziges Talent“, bemerkte sie trocken, während das Schloss klickend aufsprang.

Im Inneren des Silos war es kalt und düster. Wir hörten ein leises Wimmern aus der Tiefe. „Elke?“ rief ich, meine Stimme zitterte vor Aufregung. „Bist du da?“ Ein schwaches „Theo?“ kam zurück, und ich rannte los. Da war sie. In einer Ecke des riesigen, frostigen Raums saß Elke, eingewickelt in eine Decke, ihr Gesicht blass, aber unversehrt.
„Theo!“ Sie sprang auf, und ich schloss sie in die Arme. „Ich dachte, du kommst nicht mehr!“ „Ich auch“, murmelte ich und drückte sie fester.
„Keine Zeit für Romantik“, unterbrach Sam uns, während sie die Tür sicherte. „Wir müssen hier raus, bevor Ulf und seine Truppe sich wieder fangen. Ich schätze, Reznor hält sie nicht lange in Schach.“
„Wo gehen wir hin?“ fragte Elke verwirrt, als sie sich von mir löste. „Raus aus Hamburg. Irgendwohin, wo die Zombies und die Goth-Diktatur uns nicht finden“, sagte Sam entschlossen. „Und vielleicht irgendwohin, wo niemand Nine Inch Nails auflegt.“

Mit einem letzten Blick auf das düstere Silo verließen wir die Plantage und machten uns auf den Weg ins Unbekannte, während in der Ferne die Schreie von Ulfs geschlagenen Goths noch in der Luft hingen.


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Hörspiel-Interview
'Bachelor-Interview Leo G.'
In diesem Interview geht es um vermeintlichen Sexappeal, die erstaunlichen Vorzüge schwuler Parties für heterosexuelle Liedermacher, lästige Reisesouvenirs sowie andere mehr oder weniger gewichtige Dinge, die lifestylemäßig von Relevanz sein könnten.
mit Shea Nissios ('Mago'-Magazin)
7:14 Min. | 3 MB | DOWNLOAD/PLAY




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Leo Greller ist politisch korrekt
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