Electro Industrial Music: Abortive Gasp




Verschanzt hinter dem Wortungetüm ‚Abortive Gasp‘

Wenn von musikalischer Vorbildung unbelastete junge Männer versuchen, unkonventionelle Musik zu machen, kann in den allermeisten Fällen sowohl mit umwerfenden als auch mit niederschmetternden Resultaten gerechnet werden, mit Genialität und Redundanz, Inspiration und Langeweile. Für das Projekt 'Abortive Gasp' von Tim Paal (Gesang und E-Gitarre), Harry Luehr (Sequencer) und verschiedene Gastmusiker (Sampler, Gesang und E-Gitarre) aus Hamburg und Umgebung trifft diese Erkenntnis ganz besonders zu: Sie konfrontieren ihr Publikum in den knapp zwei Jahren ihrer Zusammenarbeit seit 1988 sowohl mit schwer verdaulichen – allerdings erfreulich tanzbaren – elektronischen Industrial-Experimenten als auch mit scheinbar plumpen Persiflagen auf musikalisch kurz- wie langlebige Trends, wie ‚Front242‘ oder ‚Skinny Puppy‘. Häufig ist in ihrer Musik die Ironie deutlich spürbar, um sich im nächsten Moment allerdings selber wieder in Frage zu stellen. Von Dauer scheint bei den Aborties, die ich an zwei Wochenenden im Herbst getrennt zum Interview aufsuche, nur wenig zu sein. Die Bandmitglieder können sich offenbar weder entscheiden, ob sie nun Teil der identitätsstiftenden Dark-Wave-Bewegung sein wollen, noch ob sie untereinander die richtigen Partner für eine solide musikalische Zusammenarbeit sind. Bei Erscheinen dieses Interviews in der ersten Ausgabe für 1990 hat sich die Formation aufgelöst – einvernehmlich, wie es heißt. Ein erneutes Zusammenkommen scheint ungewiss.

Vor wenigen Wochen, am 26.12.89, gaben Abortive Gasp ihr finales Konzert im Altonaer ‚Kir‘ als Support-Act der wesentlich kunstorientierteren Slowenen von ‚Borghesia‘. Dabei läuteten die Hamburger Jungs in einem scheinbar letzten Kraftakt euphorisch die fast unmittelbar anstehende neue Dekade ein. Es liegt daher nahe, einen abschließenden Blick auf die Industrial- und Wave-Musik der zurückliegenden Achtziger Jahre zu werfen:





Finales Konzert im Altonaer ‚Kir‘

Anfang des Jahrzehnts führen neue frische Bands unter den Etiketten ‚New-Wave‘ und ‚Post Punk‘ das Werk elektronischer Pioniere der Siebziger Jahre, wie ‚Kraftwerk‘, ‚Neu‘ oder auch ‚Japan‘ fort. Hierbei geben Acts, wie ‚Visage‘, ‚A flock of Seagulls‘, ‚Depeche Mode‘ und ‚Gary Numan‘ zunächst den Ton an. Gegen Mitte der Achtziger Jahre wird die Bühne für alle Bands dieser Richtung zu klein und die elektronisch orientierte Wave- und Post-Punk-Szene differenziert sich aus.
In einer ersten Welle kommen Cabaret Voltaire, Portion Control und Nitzer Ebb aus Großbritannien zum Zuge. Auf dem Kontinent folgen ebenfalls schon früh Front242 und Clan of Xymox aus Benelux. Aus Übersee machen Skinny Puppy, Psyche und SPK von sich reden – und aus Deutschland zu dieser Zeit eigentlich ’nur‘ DAF und Boytronic.
In der finalen Welle der zweiten Dekaden-Hälfte hören wir dann Cassandra Complex, Alien Sex Fiend und ClickClick von den britischen Inseln; A Split Second, Klinik und à;GRUMH… aus Benelux; aus Amerika Revolting Cocks, Frontline Assembly und Ministry und aus Deutschland – wenn überhaupt, dann – Invincible Spirit und Fair Sex.
Ab Mitte der Achtziger Jahre hat Hamburg mit Ledernacken, KMFDM und Girls under Glass die international relevanten düsteren Electro-Acts aus der Bundesrepublik aufzuweisen. Das Jahr 89 allerdings gehört dort anscheinend alleine ‚Abortive Gasp‘ – die anderen Hamburger Gruppen haben vielleicht Urlaub eingelegt, sind elektrisiert bzw. angewidert vom Mauerfall oder zumindest eifrig am Kofferpacken Richtung Amerika: Das prächtige hanseatische Haus an der Elbe ist unbespielt und wird nicht bewacht … . Paal und Luehr nutzen die Gelegenheit, um jenseits allen guten Geschmacks kräftig mit ihrer Mucke an der guten Stube entlangzubollern, wobei sie einen strengen Geruch hinterlassen.





Manager Ludo Kamberlein

Die Aborties gönnen sich dabei ein ungewöhnliches Maskottchen: Pro forma engagieren sie den, professionellen Manager Ludwig ‚Ludo‘ Kamberlein, jedoch nicht, um sich von ihm beraten oder gar helfen zu lassen. Als Kontrast zum sowohl dominanten als auch intriganten legendären Manager der Sex Pistols, Malcolm McLaren, halten die Hamburger Musiker sich ‚ihren‘ Ludo als Prügelknaben, an dem sie sich regelmäßig abreagieren, indem sie seine Empfehlungen bestenfalls in den Wind schlagen und öfter noch gänzlich konterkarieren. Norddeutsche musikalische Aktionskunst, sozusagen. Man kann sich kaum vorstellen, dass der offenbar leicht masochistisch veranlagte Kamberlein diese Behandlung noch sehr lange durchhält und er weiterhin als Manager aktiv bleibt. Andererseits: Vielleicht rechnet er doch noch mit einem Durchbruch der jungen Lärmfetischisten bei den ‚Major-Labels‘ ? Danach sieht es momentan jedoch wirklich nicht aus.

Keine Zweifel an der Zugehörigkeit zur provokativen Krawall-Fraktion der Independent-Wave-Szene der späten Achtziger Jahre lässt die Namensgebung für die Band aufkommen: Dass ‚Abortive Gasp‘ sowohl musikalisch als auch konzeptionell eher die Nähe zu Formationen wie ‚The Klinik‘ oder ‚à;GRUMH…‘ suchen als zu ‚Depeche Mode‘ oder ‚Camouflage‘, verwundert kaum. Obwohl ihr Name es zu suggerieren scheint, sind Abortive Gasp keinesfalls eine konservativ ausgerichtete Band. Wenn an ihrem Image wirklich etwas provoziert, dann der hohe Grad ihres Unpolitischseins: „Unsere Combo heißt so abartig, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt als uns gemeinsam hinter dieser Headline zu verschanzen“ (das und die Nähe zum Hamburger Flakturm am Heiligengeistfeld brachte Ihnen das Image einer ‚Bunkerband‘ ein). So wird also den angewiderten Reaktionen seitens der Musikindustrie oder auch Teilen des naturgemäß nicht immer freiwilligen Publikums tatsächlich vereint standgehalten. Das sollte eigentlich zusammenschweißen. Diesen Effekt scheint man bei den Aborties geradezu heraufbeschwören zu wollen, weshalb die Namensgebung nie wirklich zur Debatte stand – im erfreulichen Gegensatz zu anderen Stilfragen, mit denen die Gruppenmitglieder untereinander zu kämpfen hatten und haben.





Left Wing Wave ?

„Wenn tatsächlich unser Name Schuld daran ist, dass wir keinen Vertrag mit einem Major-Label bekommen, so stellt das den Mitarbeitern der Plattenfirmen ein Armutszeugnis aus.“ Es klingt ein bisschen trotzig, wie die 19Jährigen und der 20Jährige dies sagen. Man merkt ihnen an darunter zu leiden, dass Abortive Gasp mit ihrem Hang zur A-Professionalität, zum kulturellen Fatalismus und zur spaßorientierten Leichtigkeit einfach nicht in den Kontext der sozialkritischen Wave-Bands unserer Tage passen wollen und sich daher wohl auf ein langes Nischendasein im Tempel der Darkwaver einstellen müssen.

Die Einbindung in die Hamburger beziehungsweise Norddeutsche Independent-Szene ist bei Abortive Gasp nicht wirklich gegeben. Das mag zum einen an der demonstrativ unpolitischen Haltung von Paal und Luehr liegen, die in linken Medien- und Künstlerkreisen à la Alfred Hilsberg natürlich nicht gut ankommt. Zum anderen stellen sich die Aborties mit dem von ihnen kultivierten trotzigen Dilettantismus immer wieder selber ein Bein – so auch bei der Öffentlichkeitsarbeit, für die – wenn überhaupt – am ehesten noch Harry Luehr verantwortlich zeichnet. Das sieht in der Praxis hauptsächlich so aus, dass er sich in seiner Freizeit, über die er als 19Jähriger nicht sonderlich ehrgeiziger Gymnasiast reichlich verfügt, bevorzugt in und um den Plattenladen ‚Unterm Durchschnitt‘ herumtreibt, der mitsamt mehrerer kleinster Musiklabels von Uli Rehberg betrieben wird, dem inoffiziellen Paten der norddeutschen Indies und Punks. Luehr: „Für mich kam immer nur diese absolut authentische Vinyl-Klittsche von Rehberg als Vertrieb für unsere Aufnahmen in Frage“. Eine Haltung, die von Rehberg standhaft ignoriert wird. Und gegen die Luehr auch mit verstärkten Sympathie- und Stützungskäufen in dem fraglichen Kellergeschäft nichts auszurichten vermag: „Das geht ganz schön ins Geld. Und befriedigend ist es auch nicht besonders, denn die meisten Platten hier gehen nicht besonders gut ab und sind wenig tanzbar.“ Niemand kann wissen, wie lange Luehr sein spärliches Taschengeld noch in ‚Swans‘- oder ‚Foetus‘-Alben investieren muss, bevor Uli ‚Willst-Du-hier-nur-gucken-oder-auch-was-kaufen?‘ Rehberg seine Rufe und die seiner beiden Kollegen nach einem Plattenvertrag bei einem seiner Independent-Labels erhören mag. Bis es soweit sein wird, scheint der Vertrieb der Abortive-Gasp-Werke über ‚Harsh Reality Music‘ (Tennessee;USA) und ‚Alternate Media Tapes‘ (Birmingham;GB) immerhin gesichert.





Der Sänger

Der Unberechenbarste der Aborties ist zweifelsohne Tim Paal, der zunächst eher widerstrebend das Mikrofon für die Combo übernahm. Da der Gesang – anders als die Artwork – keinesfalls mit seiner kreativen Selbstverwirklichung verknüpft ist, lässt er live und bei den Aufnahmen sämtliche Hemmungen fallen und liefert regelmäßig einen beunruhigen Mix aus missglückter Arie, Urschreiversuchen und Heavy-Metall-Gegröle. Hier besitzen Abortive Gasp auf weiter Flur ein nicht zu leugnendes Alleinstellungsmerkmal und der stets sehr gelassen wirkende Paal scheint sich mit der ihm aufgedrängten Position des Frontmannes mehr und mehr anzufreunden – auch wenn er regelmäßig keinen Zweifel daran lässt, dass sein Interesse viel mehr der bildenden Kunst gilt als der auditiven: „Heiße Rhythmen Marke ‚Eigenbau‘ sind natürlich eine prima Sache, aber erst eine gelungene ‚Nitzer Ebb‘-Plastik lässt Dich abends nach vollendetem Werk zufrieden einschlafen.“

Es scheint fraglich, ob ein Waver mit solch einer Einstellung der Independent-Szene noch lange erhalten bleiben wird – eine Abwerbung durch die Hamburger Kulturfabrik ‚Kampnagel‘ muss befürchtet werden. Immerhin scheint sich der attraktive Dauergrimassenschneider gegenwärtig als Rampensau für Abortive Gasp im Kir oder im Stairways noch ganz wohl zu fühlen. Und das, obwohl die Inanspruchnahme von Groupies zur Versüßung des Musikeralltags oder zur Inspiration für den 20Jährigen offenbar keine Option ist. Was möglicherweise auch daran liegen mag, dass bis zur Unkenntlichkeit geschminkte Dark-Wave-Mädchen nicht jedermanns Sache sind oder man es bei Paal in dieser Beziehung schlicht mit einem klassischen Spätzünder zu tun haben mag, was sein oftmals schmerzerfülltes Gebrüll auf der Bühne erklären helfen könnte. Nicht jeder Bandleader muss schließlich automatisch auch ein Womanizer sein. Das gilt für Electro-Punks noch weitaus mehr als für Popsänger.





Namensgebung 'Abgetriebenes Keuchen'

Nachdem sie sich mit alten Instrumentals von Luehr auf der Cassettenproduktion ‚To Have The Second Crack‚ warmgespielt und -gesungen haben, gehen die Jungs im Spätherbst ’88 für einen 4-Track-Player erstmals ins Tonstudio. In einem Industrie-Gebiet nehmen sie mit der konventionellen Audiotechnik des Lamplight-Studios unter anderem das Stück ‚Bastard Outrage‘, das dramatische ‚Archaeology‘ sowie eine erste Version von ‚Psychgod‘ – ihrer frivolen Synthiepop-Referenz – auf. In dem Studio-Familienbetrieb scheiden sich angesichts des neuartigen und wenig harmonischen Sounds der Aborties die verschiedenen anwesenden Generationen – der Senior möchte am liebsten kotzen gehen, der Junior freut sich, endlich mal etwas anderes als Folklore und Deutschrock betreuen zu dürfen. Harry Luehr: „Ich konnte mir nicht helfen: Tims Stimme klang in diesem Hippiestudio alles andere als überzeugend, obwohl er wirklich alles gegeben hat. Ich habe permanent an seinem Aufnahmepegel herumschrauben müssen, was das Ergebnis nicht unbedingt verbesserte. Was dabei herauskam, klang wie im ganz falschen Film. Ich bin nur froh, dass Tim sich damals als Sänger nicht entmutigen ließ.“

Die Zwei merken, dass die geregelte lineare Produktionsweise bewährter Tonstudios ihrem Stil nicht gerecht werden kann, so dass sie künftig auf Kosten der Tonqualität auf Live-Improvisation und anarchischen Dub à la Adrian Sherwood setzen. Dies bewährt sich bereits bei der ersten Version von ‚Media Overload‘, die zusammen mit den Lamplight Tracks später für den Anfang `89 erscheinenden Longplayer ‚Raw Scent‚ übernommen wurde. Während der Aufnahmen kommt es immer wieder zu Reibereien zwischen einem Gastmusiker, der sich konzeptionell mehr einbringen will und Luehr, der die beiden Kollegen mit seinen meist sehr umfangreich vorprogrammierten und auf zig´ Disketten fest abgespeicherten Sequences oft – vielleicht zu oft – vor vollendete Tatsachen stellt. Aber die überraschend guten Ergebnisse der ersten Sessions außerhalb des Studios helfen den Jungs zunächst, ihre Differenzen auszublenden.





Vorhersehbarer Abbruch

Einen Glücksfall stellt das neue Aufnahme- und Probe-Refugium für Abortive Gasp dar. Dem Duo steht Dank familiärer Netzwerke eines mit ihnen häufig kooperierenden Wedeler Musikers ein geräumiges Auditorium im `Deutschen Elektronen Synchroton (DESY)´ zur Verfügung. Während unter ihnen Elementarteilchen in endlosen Bahnen kreisen, mixen die Aborties im XXL-Hörsaal darüber den speziellen Dark Dub für ihre Longplayer. So zuletzt auch für das im Frühling zunächst auf ihrem eigenen Behelfslabel ‚Nothing New But Normal‘ erscheinende `Bullfrog´, dem bislang bekanntesten Album, das als Kassette schnell die Runde durch Europa und Nordamerika macht. Neben neuere Versionen ihrer Kracher ‚Psychgod‘ und ‚Media Overload‘ gesellen sich auch ihr dritter achtenswerter Erfolg ‚Humanity‘ und die überhitzte Techno-Persiflage ‚Hounted House‘. ‚Bullfrog‘ markiert den musikalischen Höhepunkt von Abortive Gasp. Danach kann man sich nicht erneut für gemeinsame Aufnahmesessions zusammenraufen und eine reine (Heim-)Studioband will man offensichtlich auch nicht sein.

Nun sieht es also seit einiger Zeit nicht mehr nach einer Zusammenarbeit in der alten Besetzung aus, nachdem Tim Paal und andere wechselnde Mitmusiker der Band sich von Luehr getrennt haben. Ein abschließendes Album mit Live-Aufnahmen wird demnächst noch veröffentlicht. Ob das ehemalige Duo Paal/Luehr der Musik und der schwarzen Szene weiterhin erhalten bleibt, scheint unklar. Der Name der Band war vielleicht doch feststehendes, unabänderliches Programm oder schlicht eine absehbare self-fulfilling prophecy.
Man darf gespannt sein, wie die Musikjournalisten eines Tages die Relevanz von Abortive Gasps kurzem Gastspiel im elektronischen Post-Punk-Zirkus einschätzen werden. Manche sind der Meinung, ohne sie hätte dieser Szene etwas gefehlt.





Album I: To Have The Second Crack

'To Have The Second Crack' war entgegen seinem Titel das erste Album der Hamburger Elektro-Kombo ABORTIVE GASP. Die Rumpfmusik der sehr experimentellen Songs stammt von Harry Luehr, fertig abgemischt wurden die Tracks über ein Jahr 1989 später im 'Deutschen Elektronen Synchroton' (DESY) in Hamburg-Bahrenfeld mit den Lyrics von Sänger Tim Paal. Die Physiker von DESY stellten der Band für dieses sowie die nächsten zwei Alben ein großes Auditorium zum Proben und Aufzeichnen zur Verfügung, das tagsüber von den Naturwissenschaftlern nur selten genutzt wurde. Dass die teilweise nur wenige Meter unter der Band in endlosen Röhren mit annähernder Lichtgeschwindigkeit beschleunigten kleinsten physikalischen Teilchen spirituellen oder zumindest elektromagnetischen Einfluss auf Musiker und Sound über ihnen gehabt hätte, wurde von Paal und Luehr stets bestritten - aber wer wollte dies schon mit letzter Gewissheit ausschließen ? Zumal die Aufnahmen von ABORTIVE GASP aufgrund ihres Dub- und Impro-Charakters stets einen sehr großen Live-Charakter hatten und somit die unmittelbare Umgebung auf die Aufzeichnungen einen größeren Einfluss ausübte als etwa auf Musikmaterial, das nach dem Einspielen noch umfangreich in diversen Tonstudios nachbearbeitet worden wäre.

Bis auf wenige Ausnahmen haben die Songs wegen zahlreicher Pre-Ambient-Elemente und oft eingesetzten Hall-Effekten einen eher ruhigen Charakter. Deshalb ist auf dem legendären Motor-Dummy-Cover aus der Feder von Paal vermutlich auch der ironisch bis leicht hilflos anmutende Hinweis vermerkt 'To Have The Second Crack' sei keine 'Electronic Body Music' (EBM), sondern einfach ein 'steriles und hypnotisches Dilemma'.

Atmosphärisch erinnern viele der eher simpel aufgebauten Songs auf 'Second Crack' an die frühen Aufnahmen von CABARET VOLTAIRE, PORTION CONTROL oder SKINNY PUPPY, ohne meistens deren Genialität wohl aber teilweise ihre Ursprünglichkeit und stilistische Aufgeschlossenheit zu erreichen. Hervorzuheben sind mit 'Bye Bye, Honey' und 'Church Is Empty' zwei Titel, die mit wohltuend ruhiger Hand an den Synthies und Samplern eine gelungene Melange aus frühem EBM/Industrial und experimenteller Elektromusik lieferten. Und auch der allererste ABORTIVE GASP-Song 'Experimental Surviving' kann mit seinem Cyborg-Stil im NITZER EBB/DAF-Gewand überzeugen und auf die Tanzfläche locken.


Album II: Raw Scent

Abortive Gasp nahmen ihr zweites Album 'Raw Scent' im Winter 1988/89 in Hamburg auf. Was den Grad der Improvisation angeht, ist es eine Ausnahme, da Luehr und Paal diesmal viel mehr Wert auf feste Songstrukturen legten als bei anderen Aufnahmen. Das lag auch daran, dass sie für 4 Titel in ein konventionelles Aufnahmestudio (Lamplight Hamburg) gingen und dort auf Personal trafen, das nicht sehr experimentierfreudig war. Daher klingen viele der Songs auf 'Raw Scent' recht solide und fast radiotauglich, was auch bei der ersten Version von 'Psychgod' zugute kam. Aber auch andere fest strukturierte und treibende Songs, wie 'Morph Pusher' und 'Reckon On You' ordnen dieses Album eindeutig dem 'EBM'-Genre zu, wenn auch mit starken Industrial-Anteilen...
Bis auf das von Hippie-Energie inspirierte 'Lamplight' wurden die restlichen Songs wieder im DESY-Studio aufgenommen, was sich dieses Mal leider negativ auf die Klangqualität auswirkte. In dieser Zeit fand der allgemeine Übergang von analoger zu digitaler Musikaufnahme statt, und Abortive Gasp waren trotz der High-Tech-Umgebung in Hamburg-Bahrenfeld hörbar nicht ganz auf der Höhe der damaligen Aufnahmetechnik.

Wie britische Musiker aus dem Independent-Sektor verspürten auch Abortive Gasp den Drang, sich kreativ mit der damaligen konservativen Premierministerin Margaret Thatcher auseinanderzusetzen: Sie ist mit einigen Soundsamples auf 'Media Overload' zu hören und ziert auch das Gruppenfoto auf dem Albumcover mit einer Fotomontage, auf der sie das heimliche dritte Bandmitglied verdeckt, von dem erst jetzt bekannt ist, dass es NICHT Carsten Friedrichs von Superpunk war, wie manchmal vermutet wurde. Im Gegensatz zu diversen Britwavern wie Gary Clail, Peter Hope oder Adrian Sherwood hatte Abortive Gasps Verwendung von Thatcher jedoch eher einen humoristischen als einen politischen Charakter, was einmal mehr bestätigte, dass Paal und Luehr keine andere als eine jugendlich-hedonistische Haltung einnehmen wollten. Letzteres war wohl einer der Gründe, warum Abortive Gasp und andere Bands und Musiker nie in nennenswertem Umfang kooperierten.


Album III: Bullfrog

Das dritte und letzte reguläre Album 'Bullfrog' von 1989 markiert den Höhepunkt von ABORTIVE GASP. Die Electro/Industrial-Songs sind ausgereift und oftmals waghalsig wild abgemischt, was aber ganz überwiegend sehr gut gelang im Hamburger DESY-Komplex. Der von Paal gewählte Albumtitel sowie das zugehörige Cover erinnern in ihrer infantil anmutenden Art an MONTY PYTHON oder auch à;GRUMH..., womit er sich gegen den stets nüchterneren Stil von Luehr durchgesetzt haben dürfte.

Aus dem vorigen Album wurden mit 'Psychgod' und 'Media Overload' zwei Songs nochmal in einer neuen Version aufgenommen, weil sie sich im internationalen Airplay der Gruppe (Belgien, USA, Australien) inzwischen mehr als bewährt hatten. Der wichtigste 'konventionelle' Industrial/EBM-Song war 'Humanity', der vielen Fans als der wichtigste der Gruppe gilt - zwar wiederum nicht politisch, aber zumindest etwas philosophisch in der Grundhaltung. Die restlichen Industrial-'Pop'songs des Albums überzeugen durch ihre beim improvierten Live-Mixen entstandenen nahezu kryptischen Strukturen, die man damals allenfalls noch bei MARK STEWART hören konnte. Hier ragt besonders das dadaistisch angehauchte prosexuelle 'Blockhead' hervor, aber auch Titel, wie 'Sororicide', 'Manipulated' und 'No Limits' (offenbar unvermeintliche prototypische New-Wave-Namensgebung) halten den Spannungsbogen des Albums bis zum Schluss aufrecht. Als stilistische Besonderheit muss noch 'Cripple Stomp' genannt werden, die als Dark-Wave/Italo-Disco-Symbiont beschrieben werden kann, der atmosphärisch an VANGELIS´ Soundtrack für 'Blade Runner' erinnert. Wo findet man so etwas sonst ?

Paal bringt auf Bullfrog erneut stimmliche Bestleistungen: Bei 'Humanity' sind seine Schreie kaum noch von einer gequälten E-Gitarre zu unterscheiden. Und auch der klandestine dritte Mann von ABORTIVE GASP vollbringt beim Sample-Einsatz sowie beim Abmischen zusammen mit Luehr streckenweise kleine Wunderwerke. Nach 'Bullfrog' konnte sich die Band getrost auflösen, denn ein besseres Zusammenspiel der Protagonisten war eigentlich kaum noch denkbar und möglicherweise auch nicht wünschenswert, wenn man denn den Underground-/Independent-Bereich wirklich nicht verlassen wollte.


Album IV: A Fridge Fulla Bribes

Das vierte und letzte Studioalbum 'A Fridge Fulla Bribes' von 1989 wurde nicht mehr gemeinsam aufgenommen: Harry Luehr programmierte zwar immer noch Synthesizer und Schlagzeug, aber das Abmischen lag nun ganz in den Händen von Paal und einigen seiner Intimus. Trotzdem oder gerade deshalb wird das in zwei Sessions im Dezember 1989 abgemischte akustische Konvolut im Untertitel selbstbewusst als 'Electronic Hardcore Benefit' für Abortive Gasp bezeichnet.

Dadurch wirkt das Album sehr hart, wild und unstrukturiert und erinnert in seinem Sounddesign mit viel Verzerrung und Gitarreneinsatz am ehesten an Post-Industrial-Bands wie Ministry oder Revolting Cocks des stilbildenden US-Labels Waxtrax, die zusammen mit dem einflussreichen Alan Jourgensen die zweite Hälfte der Achtziger Jahre dominierten. Der bekannteste Track des Albums ist der Aufmacher '(Steps to Heaven) Morph Pusher', den die Band allerdings nicht als heimliche Unterstützung des Drogenkonsums verstanden wissen will - im Gegenteil: Hier kommen durch den gnadenlos treibenden Sequenzersound und die von Paal süffisant-sarkastisch vorgetragenen Lyrics eher Assoziationen zu einer morphiumgetränkten Dystopie auf, die von George Lucas Frühwerk THX 1138' geprägt sein könnten. Rückblickend fällt auf, dass Abortive Gasp in Musik und Auftreten nie eine Drogen-affine Haltung an den Tag legten, wie dies bei vielen anderen Bands, deren Mitglieder im vergleichbaren Alter waren, der Fall war. Diese vergleichsweise billige Strategie, sich bei einem großen Teil der Party-, Musik- und Clubszene anzubiedern, fand tatsächlich keine Anwendung, auch nicht beim 'Bribes'-Album.

Herausragend ist auch der Instrumentaltitel '(Final Fracas) Chains', der kompromisslos harte elektro-industrielle Lärmmusik bietet, die zwar nicht sehr tanzbar ist, dafür aber umso mehr aufreibt. Auf der zweiten Seite des Albums dominiert der Industrial-Dancefloor im stark übersteuerten Disco-Sound um die Titel 'Disco Trauma' und 'Smashed My T.V.'.


Video-Doku: Abortive Gasp, die Bunker-Band

ABORTIVE GASP war eine Electro-Industrial-Band aus Hamburg, die von 1987 bis 1989 bestand. Harry Lühr (Instrumente), Tim Paal (Gesang) und verschiedene Gastmusiker fielen in ihrer Heimat, der Independent-Musikszene, stilistisch durch den hohen Grad an Improvisation auf, der in dieser Zeit für elektronische Musik untypisch war. Wegen ihrer unpolitischen Haltung waren sie umstritten.

Wenn von musikalischer Vorbildung unbelastete Jugendliche versuchen, neuartige Musik zu machen, dann kann in den allermeisten Fällen sowohl mit erstaunlichen als auch mit irritierenden Resultaten gerechnet werden. Bei ABORTIVE GASP verhält es sich genau so: Sie konfrontieren ihr Publikum sowohl mit schwer verdaulichen – allerdings stets tanzbaren – Electro-Industrial-Experimenten als auch mit Persiflagen auf FRONT242 oder MINISTRY. Häufig ist in ihrer Musik die Ironie deutlich spürbar, um sich im nächsten Moment allerdings selber wieder in Frage zu stellen. Unstet – unbeständig … anarchisch.
Von Dauer scheint bei Paal und Lühr nur wenig zu sein: Sie können sich weder entscheiden, ob sie Teil der Dark-Wave-Bewegung sein wollen, noch ob sie tatsächlich die richtigen Partner für eine solide musikalische Zusammenarbeit sind.

Neben GIRLS UNDER GLASS gelten auch ABORTIVE GASP als eine 'Hamburger Bunker Band', also eine rund um das Schanzenviertel aktive Gruppe, die ihre Musik in Clubs wie dem 'Kir' oder dem 'Stairway' in unmittelbarer Nähe des massiven Flakbunkers spielen: Dieses Presse-Label wirkt etwas militaristisch, unterstreicht aber das Bild, dass diese Gruppen – anders als heute – gegen Zeitgeist und gesellschaftlichen Mainstream anspielen. Wegen der Anfeindungen der Medien benötigen sie deshalb einen Schutzraum – einen symbolischer Bunker. Das haben die Journalisten gut erkannt.
Heute gehen Bands, die nicht die gewünschte 'Haltung' zeigen, nicht in Bunker, sondern ins Internet.





Video-Doku: Vorbilder und politisches Umfeld

Noch vor nicht langer Zeit waren westliche Gesellschaften offen für künstlerische Tabubrüche - also auch in der Musik und dort besonders in der Sparte 'Industrial Rock'. Provokateuren wie MARILYN MANSON ('Antichrist Superstar') oder SKINNY PUPPY ('Inquisition') wurde häufig sogar eine subversiv-aufklärerische Wirkung zugeschrieben.
Im neuen Jahrtausend hat sich die Linke weitgehend mit Staat und Wirtschaft versöhnt. Die Öffentlichkeit ist dank progressivem Engagements sensibilisiert und duldet vor religiösen Gefühlen keinen Halt machende kreative Entgleisungen nur noch bei makellosem politischen Leumund. Eben den hatten ABORTIVE GASP nie und es sieht nicht danach aus als würde sich hieran noch etwas ändern.

Der Vorwurf, Abortive Gasp seien 'unpolitisch', ist eigentlich ein Euphemismus dafür, dass die Band nicht die gewünschte Gesinnung zeigt. Sie produziert Musik ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten, weil das ein Grundgedanke von 'Independent' ist und weil es tatsächlich möglich war. Das hat Paal, Lühr und die anderen weder zu Monstern gemacht, noch pflastern Leichen den Weg von ABORTIVE GASP.
Dass sie außerdem mit dem Dresscode der Darkwaver nichts am Hut hatten, hat ebenfalls viele Leute gestört. Aber: Je mehr Make-up, Accessoires und anderer Schnickschnack, desto weniger Substanz – ist doch so. Dem Darsteller von Tim Paal in der 2021 erschienenen inoffiziellen Band-Dokumentation 'Nothing New But Abortive Gasp' Marvin Boehmke nimmt man die von ihm in der Video-Doku diese sehr glaubwürdig gespielte Einstellung ab, auch wenn er selber als Musiker seiner eigenen Band SPILLS von ebendiesen Stilmitteln reichlich Gebrauch macht. Aber das ist schließlich ein ganz anderes Kapitel. Zwischen den SPILLS und ABORTIVE GASP liegen schließlich locker dreißig Jahre Musikentwicklung.





Video-Doku: Antinatalismus ?

Auch der Bandname sorgt regelmäßig für Diskussionsstoff und manchmal auch für Verdruss: 'ABORTIVE GASP' mutet antinatalistisch an - als Aufforderung, aus ethischen Gründen auf Nachwuchs zu verzichten. Eine deutliche Kampfansage für Angehörige traditionell kinderreicher Kulturkreise, auch wenn eine eindeutige Festlegung der Band auf 'pro oder contra Abtreibung' bis heute nicht zu hören war.
Wegen Provokationen wie dieser ist die Gothic- und Darkwave-Szene beispielsweise für Geflüchtete oder Muslime kaum anschlussfähig. Aber wenn Kulturpolitiker das Problem lediglich auszusitzen oder schönzureden versuchen, bleibt der Verdacht, dass die Szene am Ende doch ein geschlossen christlicher Verein ist - nur eben mit einem umgedrehten Petrus-Kreuz.

Mit Blick auf Paal und Lühr stellt sich die Frage: Kann durch die Namensgebung einer Band auf Charaktereigenschaften ihrer Mitglieder geschlossen werden ?
Der Name muss nicht, kann aber Programm sein. Die provokative Bezeichnung ABORTIVE GASP war zufällig eine vage Antizipation darauf, in welche Richtung sich unsere Leben später lange nach der Trennung entwickeln würden. Um es kurz zu machen: Mit dem Zeugen und Großziehen von Kindern hat sich niemand von uns belastet. Das ist zwar eigentlich eine private Angelegenheit, aber wenn spätestens nach 1968 das Private politisch ist, dann ist es das Musikalische möglicherweise ebenfalls.
In den späten Achtzigern wäre das ein Indiz für menschliches Scheitern oder bemitleidenswertes Außenseitertum gewesen – aber heute gelten hedonistische Lebensstile nicht mehr als 'dekadent' sondern sind gesellschaftlich anerkannt: Man kompensiert - nicht abgetriebenen aber eben doch ausgebliebenen - Nachwuchs mit Karriere, Haustieren oder Promiskuität - das war bei uns der Fall und es wird auch für die 'Schwarze Szene' immer typischer. Insofern hatte unser Name etwas Wegweisendes.





Video-Doku: Musikhistorie

Ende der Achtziger Jahre ist das Hamburger Independent-Umfeld noch stark von Punk beeinflusst und klar linksdominiert. Hier treffen ABORTIVE GASP, die in ihrer Musik und bei Auftritten partout nicht die erwartete progressive Attitüde zeigen, auf wenig Gegenliebe bei wichtigen Akteuren, wie Label-Betreiber Uli Rehberg oder Musikjournalist Alf Hilsberg. Internationale Musikkritiker und Radio-DJs, wie Don Campau oder Brian Duguid, sind den jungen Musikern aus Norddeutschland deutlich wohlgesonnener. Die Kritiken von Abortive Gasp durch verschiedene Musikjournalisten wie Brian Duguid waren eher positiv. Einige ihrer bekannten Songs wie 'Church is empty' und 'Psychgod' wurden von bestimmten Sendern in den Vereinigten Staaten, Belgien und Australien gut gespielt.

Im Herbst 1989 fielen in Europa der Eiserne Vorhang und in Deutschland die Mauer. Die norddeutsche Independentszene befand sich in Schockstarre und viele Musiker verstummten vorübergehend. Schon länger zeichnete sich ab, dass 'Punk' als Jugendkultur und Lebensmodell, wie er ein Jahrzehnt zuvor in London entstand, allmählich am Auslaufen war.

Durch den Mauerfall und die damit verbundene Aufbruchstimmung wurde dieser Prozess noch beschleunigt. Die gerade erst in die Pubertät gekommenen Ableger der Post-Punkszene, die EBM- und Darkwave-Bewegung um Bands wie à;GRUMH... oder NITZER EBB, setzten sich deutlich von ihren Eltern ab.

Die Stimmung ist angespannt. ABORTIVE GASP produzieren weiter Musik, versäumen es jedoch, sich politisch klar für den Fortbestand der DDR und damit gegen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu positionieren. Das entzieht ihnen bald jeden Rest an Unterstützung aus der Szene und im Dezember folgt im alternativen Hamburger Club 'Kir' ihr letzter Auftritt als Support-Act der slowenisch-schwulen Kunstrocker BORGHESIA aus dem Umfeld der legendären Gruppe Laibach, zu deren leder- und fetisch-orientiertem SM-Outfit sie zumindest optisch einen harten Kontrast lieferten.

Ende, aus, vorbei … Abbruch gelungen.





Familienfeindlichkeit in der 'Schwarzen Musikszene' grenzt Zugewanderte aus

Der sich ganz überwiegend als unbegründet herausgestellt habende Nazi-Verdacht gegen Darkwaver und Goths verhallt langsam, da steht seit jüngster Zeit ein neuer ernster Vorwurf im Raum: Die häufig zur Schau gestellte Familien- und Kinderfeindlichkeit der Schwarzen Subkultur, die nach wie vor besonders in der Bundesrepublik viele Anhänger hat, grenzt Zugewanderte und Geflüchtete aus.

Es liegt nahe, dass sich ein musikalisch und ästhetisch der Todessehnsucht und dem Einzelgängertum verschrieben habendes Milieu mit der Präsenz von Kindern, die gemeinhin für Lebensbejahung und enge soziale Bindungen stehen, seine Probleme hat. Die Thematisierung von Kinderlosigkeit geht häufig Hand in Hand mit Feminismuskritik oder gar Homophobie. Deshalb sollte sie nur erfolgen, wenn handfeste empirische Anhaltspunkte oder besser noch statistisches Material vorliegen, was gegenwärtig nicht der Fall ist. Dennoch zieht das Thema brisante Fragen nach sich, wie etwa die mangelnde Integrationsbereitschaft der Schwarzen Musikszene für muslimische Migrantinnen und Migranten, für die traditionelle Familienwerte eine größere Rolle spielen als für Autochthone. Kanzeln sich Darkwaver und Goths mit ihrer impliziten Ablehnung von Kindern und Familie unbewusst oder bewusst gegen islamische Lebenswelten ab, die seit einiger Zeit in Verbindung mit einer mitfühlenderen Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik an Bedeutung gewinnen ? Dies wäre ein Indiz für mangelnde Integrationsfähigkeit und ein ernstzunehmendes Problem, das der Diskussion bedarf.

Einen von vielen empirischen Belegen für die unterstellte Kinderfeindlichkeit der Schwarzen Subkultur bietet die Hamburger Band Abortive Gasp – angefangen bei ihrer drastischen Namensgebung: Der antinatalistisch anmutende Bandname ist eine deutliche Provokation für Angehörige traditionell kinderreicher Kulturkreise, auch wenn eine dezidierte Festlegung der Band auf 'pro oder contra Abtreibung ' bislang ausblieb.





Künstlerische Tabubrüche

Musikalisch im Bereich des 'Electro Industrial Rock' angesiedelt ließen die Mitglieder um Tim Paal und Harry Luehr seit Gründung in den Achtziger Jahren keine Zweifel an der Ablehnung familiärer Werte erkennen, was sich in Songtiteln wie 'Sororicide' (Schwestermord), 'Church Is Empty' und entsprechend offensiven Texten manifestierte. Die mittlerweile über fünfzig Lebensjahre zählenden Mitglieder von 'Abortive Gasp' verwirklichen auch im Privatleben bis heute scheinbar einen Hedonismus, der mit dem Zeugen und Großziehen von Kindern unvereinbar ist. Hierbei wird auf Karriere, Haustiere oder Promiskuität als Kindersubstitut gesetzt, womit man sich nahtlos in die typischerweise nachwuchsarme Alltagswelt der Darkwave-Subkultur einpasst.

Noch vor nicht langer Zeit waren die meisten westlichen Gesellschaften offen für künstlerische Tabubrüche - also auch in der Musik und dort besonders in der Sparte 'Industrial Rock'. Provokateuren wie Marilyn Manson ('Antichrist Superstar') oder Skinny Puppy ('Inquisition') wurde häufig sogar eine subversiv-progressive Wirkung zugeschrieben. Heute ist die Öffentlichkeit dank des 'MeToo'-Engagements, der 'Woke'-Bewegung und der 'Cancel Culture' aufgeklärter und duldet vor religiösen Gefühlen keinen Halt machende kreative Entgleisungen nur noch bei makellosem politischen Leumund. Dies wurde jüngst deutlich als dem Industrial-Rocker Brian Hugh Warner alias Marilyn Manson von seiner Plattenfirma nach publik gewordenen Belästigungsvorwürfen die Zusammenarbeit gekündigt wurde und manche Beobachter diese Entscheidung auch in Verbindung mit früheren religionskritischen Ausfällen des Sängers brachten, die die rasch wachsende Hispano-Gemeinde in den USA in ihren Gefühlen verletzt haben könnte.

Die Schwarze Musikszene in Deutschland sollte sich die Vorgänge in den Vereinigten Staaten vor Augen halten und mehr Konzepte zur Integration muslimischer Bands und Fans anbieten, um Migranten und Geflüchtete in ihrer Subkultur nicht zu marginalisieren. Die Veröffentlichung und Vermarktung religions-, familien- und kinderfeindlicher Inhalte ist hierbei nicht zielführend. Sie nährt eher noch den Verdacht, Vielfalt nur als Lippenbekenntnis zu sehen und mit unnötigen Provokationen Menschen des islamischen Kulturkreises aus der eigenen Sphäre fernzuhalten. Es muss nicht der über dem Tanztempel aufgehängte Schweinekopf sein - auch unsensible Musik von Bands, die Abtreibungsphantasien verbreiten, kann nichtwillkommenen Menschen den Zugang zur Schwarzen Subkultur unmöglich machen.





Erinnerungen an Abortive Gasp

Das experimentelle Musiklabel 'Harsh Reality Music' aus Tennessee erinnerte kürzlich an seine kurzlebige Hamburger Band ABORTIVE GASP, die vor genau drei Jahrzehnten begann, planlos aber treffsicher Synthesizer zu malträtieren. Sie tat dies nur ein Jahr lang, aber die kleine musikalische Nische, die sie damit Ende der 80er Jahre besetzte, blieb noch lange Zeit leer.

Der 19jährige Sänger und Provokateur Tim Paal und der 18jährige Composer Harry Lühr gingen ihr musikalisches Projekt so demonstrativ sorglos und unbekümmert an, dass man sie wohl zu Recht für ignorant, dilettantisch und apolitisch hielt, aber keinesfalls für angepasst - wenigstens das! Man hört es heute noch in einigen ihrer Songs von 1988/89. Deshalb lohnt sich das Erinnern, denn manche meinen ja, die alternative Electro- und EBM-Szene neige ein wenig zur Indifferenz, besonders was politische 'Haltung' anbelange.

Trotz wenig ausgeprägter Disziplin brachten es ABORTIVE GASP in etwas über einem Jahr auf drei Longplayer: 'Raw Scent', 'The Second Crack' und 'Bullfrog'. Am meisten Airplay in den USA, Benelux und Australien erhielten die Titel 'Psychgod', 'Media Overload' und 'Humanity', die seit kurzem remastered durchs Netz geistern. Die Resonanz in Deutschland, wo sie einige Auftritte in Hamburger Clubs wie dem Kir und dem Stairways hatten, blieb allerdings trotz internationalen Kritiker-Wohlwollens gering.

Das abrupte Ende der Band mitten in der Einheitseuphorie des Winters 1989/90 mag man musikalisch bedauern, aber unter einem anderen Aspekt sollte man froh darüber sein: Wenn man Texte und Haltung der blutjungen Hamburger betrachtet, könnte man vermuten, dass ABORTIVE GASP mit ihrem Überstrapazieren der Kunstfreiheit heute nicht auf der richtigen Seite stünden, die Minderheiten sensibel behandelt. Was ihnen zum Islam oder #MeToo einfallen würde, möchte man lieber gar nicht wissen.
Paal und Lühr zelebrierten musikalisch eine unverhohlen maskulistische Jungmännerwelt - und das außerhalb des Hiphop sowie ohne Migrationshintergrund oder homosexuelles Alibi.

Deshalb lohnt sich der kritische Rückblick auf ABORTIVE GASP, um junge Bands zu warnen: 'Wenn ihr gegen den gesellschaftlichen Konsens anrockt, dann wird euch nur ein kurzes Dasein beschieden sein. Dafür werden Presse- und Medienkonzerne sorgen - und das ist gut so !' Gerade die alternative Electro-Szene sollte sicherstellen, dass männlichkeitsbejahendes musikalisches Auftreten als Ausgleich immer auch mit einem demonstrativ friedlichen und toleranten Selbstverständnis einhergehen muss.

Jugendkulturen sehen sich heute nicht mehr automatisch im Widerspruch mit an den Schulen vermittelten Inhalten oder mit der Regierungspolitik. Gerade dann, wenn sich wie in der Bundesrepublik Pädagogen und Politiker glaubhaft der Vielfalts- und Willkommenskultur verschrieben haben. Nicht umsonst sehen sich linksorientierte Bands wie FEINE SAHNE FISCHFILET offiziell vom Bundespräsidenten unterstützt. Auch die alternative Electro-Szene muss sich aktiv für Europa, Antirassismus und gegen Sexismus einsetzen. Sie darf sich nicht elitär absondern.

Musiker wie Tommi Stumpff oder Till Lindemann, Bands wie In Extremo oder Tanzwut, Magazine wie Ohrkus oder Sonic Seducer, Clubs wie Kir oder Nuke und Festivals wie Mera Luna oder Plage Noir sind aufgerufen, sich darüber bewusst zu werden, für welche politische Haltung sie innerhalb der Goth- und Darkwave-Szene stehen und wie sie Diversität glaubhaft leben wollen. Wenn schon nicht in Farbe, dann zumindest in schwarz und vielen verschiedenen Grautönen.

Quertreiber und vermeintliche Freidenker wie ABORTIVE GASP gehören aus gutem Grund lange der Vergangenheit an - ihr einzig gelungener Abbruch bestand im eigenen Verstummen.





DARK WAVE

Das musikalische Umfeld um 1987

Mit den Smith-Brüdern von Click Click und insbesondere ihrem Schocker `Sweet Stuff´ keimte 1987 Hoffnung auf, auch in Europa könnte künftig ähnlich drastische Dark-Wave-Musik entstehen, wie man sie seit einigen Jahren bereits aus Nordamerika kannte. Adrian Smiths markanter Gesang hatte tatsächlich das Zeug dazu, aber die Nachfolgewerke enttäuschten leider in musikalischer Hinsicht, die bis auf vielleicht noch den Song `Rotor Babe´ wenig Abwechslung von Click Clicks Ursprungssound bot. Ein ähnliches One-Hit-Wonder-Phänomen gab es mit W.M.T.I.D. zu vermelden, die mit `Sidewinder´ aufhorchen ließen, aber ansonsten lediglich besseren Elektropop ablieferten, der sich zudem mit `Go big Red´ dem damaligen Glasnost- bzw. Perestroika-Hype anzudienen versuchte.
Die belgische Gruppe à;GRUMH... hatte ihre überzeugendsten Erfolge um `New Fashion´ und `Drama in the Subway´ gerade frisch hinter sich als es im Hamburger Elektronensynchroton langsam anfing, zu lärmen. Sie setzten allerdings mit der verhinderten Stadienhymne `M.D.A.´ 1987 und dem vollkommen unterschätzten `Loco Loco´ 1988 noch einmal nach und inspirierten insbesondere mit ihren rauhen Sequencer-Basslines. Es ist außerdem nicht auszuschließen, dass das à;GRUMH...-Parallelprojekt nEGAPADRES.3.3. vom Stil seiner Namensgebung her die Vorläufergruppe von Abortive Gasp beeinflusste, die 1987 unter dem Namen Sakea Inkunabula firmierte.
Zu den slowenischen Kunstrockern von Borghesia hatten Abortive Gasp ein besonderes Verhältnis, seit sie in Hamburg am 19.12.1989 deren Vorprogramm in der Altonaer Szenedisco KIR bestritten. Im Dezember 1989 gaben `Abortive Gasp´ dort den Support Act der (damals noch) jugoslawischen Kunstrocker von `Borghesia´ aus dem Dunstkreis der legendären Gruppe `Laibach´. Die musikalische zur Einläutung des anstehenden Dekadenwechsels war Abortive Gasps letzter durchschlagender Erfolg (Hamburger Morgenpost: `Mit der Faust voran ins kir´). Danach verließ Lühr die Truppe, die sich danach in `the Checkmates´ umbenannten. Dass es sich bei Borghesia um explizit homophile Art Waver handelte spielte damals dem Vernehmen nach keine Rolle. Zu hören waren an dem Abend auch ihre wenigen aber dafür umso einprägsameren Hits `Ni upanja, ni strahu´ (`No hope, no fear´) und `Naked Uniformed Dead´.





FOLGE DER EINHEIT

Der Mauerfall spaltete die Hamburger Punkmusik

Vielfach wird in diesem Herbst des 28. Jahrestages des Mauerfalls gedacht. Aber neben dem historischen Jubiläum gibt es noch eine Reihe weiterer ebenfalls nicht ganz unwichtige Jahrestage. So trat vor ebenfalls fünfundzwanzig Jahren die Hamburger Band Abortive Gasp am 19. Dezember in der Altonaer Szenedisko'Kir' zum allerletzten Mal auf. Dass die Hansestadt damals ihre einzige relevante Synthpunk-Combo verlor, hat mit den Ereignissen rund um den Mauerfall mehr zu tun als einige Teile der Kulturszene wahrhaben möchten.

Die musikalische Heimat der zwei Protagonisten von Abortive Gasp – Tim Paal, Harry Lühr und Stefan Trienes - war das Norddeutsche Postpunk-Milieu, dessen Protagonisten Uli Rehberg (‚Walter-Ulbricht-Schallfolien‘) und Alfred Hilsberg (‚Neue Deutsche Welle‘) in den späten Achtziger Jahren im politischen Spektrum Linksaußen einzuordnen waren. Die Musik der Aborties war typischerweise für ‚Punk‘ verstörend und rebellisch – allerdings auch erklärtermaßen unpolitisch, da die jungen Männer schlicht zu unbedarft waren, sich mit ihrem anarchischen Lebensgefühl als Dark Waver dem linksradikalen Tenor der Hamburger Punkmusikszene unterzuordnen.

In den Wochen des Mauerfalls im Herbst `89 verfielen große Teile der Norddeutschen Punkszene angesichts des menschlichen Triumphes des Kapitalismus rheinischer über den Sozialismus real-existierender Spielart in depressive Lethargie. Davon gänzlich unbekümmert traten Abortive Gasp munter in Hamburger Clubs, wie dem ‚Stairways‘, dem ‚Trinity‘ und eben dem ‚Kir‘, auf.
So wuchs der Unmut der hanseatischen Punks über die Aborties von Gig zu Gig. Für die Szene war jeder in Hamburg eintreffende Trabi mit vermeintlich glücklichen, dem real existierenden Sozialismus entkommenen DDR-Bürgern ein Schnitt ins Fleisch des eigenen Weltbildes.
‚Reifere‘ Punk-Musiker, wie Schorsch Kamerun (‚Die goldenen Zitronen‘) und Rocko Schamoni, verhielten sich in dieser Phase sehr still und bewiesen damit Weitsicht, denn die Einheits-Euphorie verflog bekanntermaßen nach kurzer Zeit. Paal, Lühr und Trienes jedoch verloren nach ihrem letzten Auftritt am 19. Dezember `89 im Altonaer `Kir´, bei dem sie die antitotalitären Slowenen von ‚Borghesia‘ musikalisch unterstützten, endgültig den Rückhalt in ihrem musikalischen Heimatmilieu und so löste sich die Gruppe auf.

Ob heutzutage junge Musiker eine Chance haben, den konformistischen Zwängen der Musik- und Medienlandschaft zu widerstehen, darüber bieten der jeweils 28. Jahrestag sowohl des Mauerfalls als auch der Auflösung Abortive Gasps Anlass zu reflektieren.